Erste Zeilen: Interessante Buchanfänge

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Der Tag begann mit einem vereinzelten Vogelruf. Tag um Tag der gleiche Vogel, der gleiche Ruf. Es war, als wolle jenes gefiederte Wesen seine Brut vom Anbruch der Frühdämmerung verständigen. Jakob schlug die Augen auf. Die vier Kühe ruhten auf ihrer Matte aus Stroh und Dung. Mitten auf dem Boden der Scheune lagen aufeinander geschichtet ein paar geschwärzte Steine und verkohlte Äste – die Feuerstätte.

Isaac Bashevis Singer: Jakob der Knecht







Er konnte sich nicht daran gewöhnen, zur Wohnung des Mädchens zu fahren. Er war angespannt, wenn er am Tor vorbeifuhr und der Straße folgte, die sich durch den Komplex mit den Reihenhäusern schlängelte. Selbst wenn es dunkel war, war er ein wenig angespannt. Aber sobald er die Garage erreichte, den Schalter der Fernbedienung drückte und die Doppeltür öffnete, war er da und es war geschafft.

Elmore Leonard: 52 Pickup (englische Ausgabe)







Plus ça change,
plus c’est la même chose.

Das französische Sprichwort, wonach alles umso mehr beim Alten bleibt, je mehr es sich ändert, ist nicht nur ein Bonmot. Es dürfte vielmehr der bündigste Ausdruck der merkwürdigen und paradoxen Beziehung zwischen Bestand und Wandel sein, und es entspricht jedenfalls der täglichen Lebenserfahrung besser als die Theorien der Philosophen, Mathematiker und Logiker über dieses Thema.

Paul Watzlawick, John H. Weakland, Richard Fisch: Lösungen







Um ein Haar hätte ich ihn totgeschlagen, dachte er. Er stolperte über eine der Kiefernwurzeln, die quer zum Pfad durch den sandigen Boden zogen. Er hatte das Hindernis kaum wahrgenommen, fing sich wieder und hastete weiter. Es wäre fürchterlich gewesen, wenn ich ihm etwas angetan hätte! Mein Bruder bleibt Hartwig doch, wenn ich auch nichts mit ihm gemein habe, gar nichts gemein haben will. Das brauchte nicht zu sein. Aber es ist nun einmal so. Es ist nie anders gewesen.

Johann, A. E.: Ans dunkle Ufer







Um halb neun Uhr morgens fuhren sie aus der Stadt hinaus. Die gepflasterte Straße war trocken, eine prächtige Aprilsonne spendete Wärme, aber in den Gräben und Wäldern lag noch Schnee. Der böse, dunkle, lange Winter war soeben zu Ende gegangen; der Frühling war plötzlich gekommen; aber weder die Wärme noch die trägen, durchsichtigen, vom Frühlingshauch erwärmten Wälder, noch die schwarzen Vogelschwärme, die auf den Feldern über riesige Pfützen flogen, die wie Seen aussahen, noch dieser wunderbare, unermesslich tiefe Himmel, in den man sich mit solcher Freude zu stürzen schien, boten Marja Wassiljewna, die im Wagen saß, etwas Neues und Interessantes.

Anton Tschechow: Im Wagen







Ich schüttelte den Regen von meinem Hut und betrat den Raum. Niemand sagte ein Wort. Sie traten höflich zurück und ich spürte ihre Blicke auf mir. Pat Chambers stand an der Tür zum Schlafzimmer und versuchte, Myrna zu beruhigen. Der Körper des Mädchens war von trockenen Schluchzern geplagt. Ich ging hinüber und legte meine Arme um sie. "Ganz ruhig, Kleine", sagte ich ihr. "Komm hierher und leg dich hin."

Mickey Spillane: Ich, die Jury (englische Ausgabe)







When you sit at home comfortably folded up in a chair beside a fire, have you ever thought what goes on outside there? Probably not. You pick up a book and read about things and stuff, getting a vicarious kick from people and events that never happened. You’re doing it now, getting ready to fill in a normal life with the details of someone else’s experiences. Fun, isn’t it? You read about life on the outside thinking of how maybe you’d like it to happen to you, or at least how you’d like to watch it.

Mickey Spillane: My Gun Is Quick







Das Schönste am Schreiben ist ja, dass man mit Menschen in Kontakt kommt, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gibt. Ich habe keine Ahnung, wo sie auf einmal herkommen. Plötzlich sind sie da, und sie kriechen vom Kopf über die Finger auf das Papier, und da fangen sie an, Geschichten zu erleben, die man gar nicht für möglich gehalten hätte.

Lea Pilvi: Annabelle sieht rot

Homepage von Lea Pilvi







Als Erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee. Die Kaffeemaschine steht drüben auf dem Tisch, und das Blut ist in meinen Schuhen. Um ehrlich zu sein, es ist nicht nur Blut. Als der Ältere «vierzehn» gesagt hat, hab ich mir in die Hose gepisst. Ich hab die ganze Zeit schräg auf dem Hocker gehangen und mich nicht gerührt. Mir war schwindlig. Ich hab versucht auszusehen, wie ich gedacht hab, dass Tschick wahrscheinlich aussieht, wenn einer «vierzehn» zu ihm sagt, und dann hab ich mir vor Angst in die Hose gepisst. Maik Klingenberg, der Held. Dabei weiß ich gar nicht, warum jetzt die Aufregung. War doch die ganze Zeit klar, dass es so endet. Tschick hat sich mit Sicherheit nicht in die Hose gepisst.

Wolfgang Herrndorf: Tschick







Es gab keine weiteren Überlebenden.

Familienmitglieder, die am Schauplatz der Katastrophe im Bankettsaal aus dem fünften Jahrhundert v. Chr. ankamen, suchten in den Trümmern nach Spuren ihrer Angehörigen - Ringe, Sandalen, irgendetwas, das es ihnen ermöglichen würde, ihre Verwandten zu identifizieren, um sie ordnungsgemäß zu bestatten.

Minuten zuvor war der griechische Dichter Simonides von Keos angetreten, um eine Ode zu Ehren des thessalischen Edelmannes Skopas zu halten. Als Simonides sich setzte, klopfte ihm ein Bote auf die Schulter. Draußen warteten zwei junge Männer auf Pferden, die ihm etwas mitteilen wollten. Er stand wieder auf und ging zur Tür hinaus. In dem Moment, in dem er die Schwelle überschritt, stürzte das Dach des Festsaals in einer donnernden Wolke aus Marmorsplittern und Staub ein.

Foer, Joshua: Moonwalking with Einstein (English)







Als Dr. Gustav Oppermann an diesem 16. November, seinem fünfzigsten Geburtstag, erwachte, war es lange vor Sonnenaufgang. Das war ihm unangenehm. Denn der Tag wird anstrengend werden, und er hatte sich vorgenommen, gut auszuschlafen.

Von seinem Bett aus unterschied er ein paar karge Baumwipfel und ein Stück Himmel. Der Himmel war hoch und klar, kein Nebel war da wie sonst oft im November.

Feuchtwanger, Lion: Die Geschwister Oppermann







"Es gibt Orte auf der Welt, an denen Menschen verschwinden."

Sein Vater hatte das gesagt. Sein Vater hatte ganz offen gesprochen, ohne einen Hauch von Geheimnis oder Drohung. Es war keine Aussage, die in Frage gestellt werden konnte, und es war keine Aussage, die erklärt werden musste. Später, als sein Vater aus seinem Leben verschwunden war, rief er sich die Worte als eine Art Erklärung ins Gedächtnis zurück, und in ängstlichen Momenten hörte er die Worte falsch als "Es gibt Orte auf der Welt, an denen Menschen verschwinden können".

Joyce Carol Oates: Spider Boy (English)







Hinter der alten Fischfabrik am Fluss haben sie sie gesehen.

Jungen, die von der Schule nach Hause radeln. Sie nehmen eine Abkürzung über einen zerfurchten, verkrauteten Weg.

Es ist falsch zu sagen: "Drei Jungen sahen Tanya: unsere Tochter". Richtig wäre: "Drei Jungen sahen Tanyas Leiche". Das ist ein feiner Unterschied. Und doch ist es ein tiefgreifender Unterschied. Wenn man sich falsch ausdrückt, selbst in Trauer und Verwirrung, fühlen sich die Leute unwohl. Meinem Mann sind meine Emotionen manchmal peinlich, und er drückt mir den Arm knapp über dem Ellbogen, um mich zu trösten (könnte man meinen), was in Wirklichkeit eine Art ist, mich zum Schweigen zu bringen, wenn ich mich falsch ausdrücke.

Joyce Carol Oates: Die Fischfabrik







Die einzigen Menschen, die ich noch liebe, sind die, denen ich wehgetan habe. Ich frage mich, ob das bei Ihnen auch so ist?

Die einzigen Menschen, nach denen ich mich sehne. In diesen Nächten kann ich nicht schlafen.

Sehen Sie, mein Herzschlag ist schnell. Das liegt an den verdammten Medikamenten, die mich zum Schwitzen bringen. Ich fahre mit den Fingern über meinen Stummel-Vorderfinger - hab das meiste davon vor langer Zeit bei einem Kettensägenunfall verloren. Seltsam, dass sich der Finger anfühlt, als wäre er noch ganz da, in meinem Kopf. Tut auch weh.

Joyce Carol Oates: High Lonesome







Ich hielt den Mescal gegen das Licht und sah zu, wie der Wurm über den Boden der Flasche glitt. Ein Geschenk von einem Freund, der gerade aus Mexiko zurückgekehrt war. Der Wurm war fett und weiß und sah irgendwie gefährlich aus, und ihm wurden große halluzinogene Eigenschaften zugeschrieben. Man sollte ihn essen und er sollte einen so high machen, dass man eine Trittleiter brauchte, um sich am Hintern zu kratzen. Wir würden sehen.

Kinky Friedman: Greenwich Killing Time (English)







Ich befinde mich in einem Büro, umgeben von Körpern und Köpfen. Meine Haltung kongruiert bewusst der Form des harten Stuhls, auf dem ich sitze. Es ist ein kaltes Zimmer, das zur Universitätsverwaltung gehört, holzgetäfelt, remingtonbehängt und doppelverglast gegen die Novemberhitze, durch das Empfangsareal draußen von Verwaltungsgeräuschen abgeschirmt. Dort wurden Onkel Charles, Mr deLint und ich vorhin empfangen.

Ich bin hier drin.

David Foster Wallace: Unendlicher Spaß







An einem Zaun. Ein Vogel sang. Die Sonne war dann schon irgendwo hinter den Büschen. Der Vogel schwieg. Es war Abend. Die Bauernmädchen kamen singend über die Felder. Welche Einzelheiten! Ist es Kleinlichkeit, wenn solche Einzelheiten sich an einen Menschen heften? Wie Kletten!? Das war Tonka. Die Unendlichkeit fließt manchmal in Tropfen.

Robert Musil: Tonka







Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften







»Nun, Fürst, hat die Familie Bonaparte auch Genua und Lucca in Besitz genommen? Ich sage Ihnen, Sie sind nicht mehr mein Freund, mein getreuer Sklave, wie Sie sagen, wenn Sie noch ferner die Notwendigkeit des Krieges leugnen und noch länger die Greuel verteidigen wollen, welche dieser Antichrist begeht, denn es ist der Antichrist selbst, davon bin ich überzeugt. Setzen Sie sich hierher und erzählen Sie.«

Leo Tolstoi: Krieg und Frieden







Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.

Leo Tolstoi: Anna Karenina







Wie sehr sich die Menschen auch mühten, nachdem sich ihrer einige Hunderttausend auf einem kleinen Raume angesammelt hatten, die Erde, auf der sie sich drängten, zu verunstalten; wie sehr sie den Boden mit Steinen zurammelten, damit nichts darauf wachse, wie eifrig sie ihn von jedem hervorbrechenden Gräschen reinigten, wie sehr sie mit Steinkohlen, mit Naphtha dunsteten, wie sie auch die Bäume beschnitten, alle Tiere und Vögel verjagten – der Frühling war doch Frühling, sogar in der Stadt!

Leo Tolstoi: Auferstehung







Wir trauerten damals um meine Mutter, die im Herbst gestorben war, und lebten – Katja, Sonja und ich – den ganzen Winter zurückgezogen auf dem Lande. Katja war eine alte Freundin unseres Hauses, unsere Gouvernante, die uns großgezogen hatte und die ich kannte und liebte, solange ich zurückzudenken vermag. Sonja war meine jüngere Schwester.

Leo Tolstoi: Glück der Ehe







Eines Abends, es war gegen Ende Oktober, sagte Harry Arno zu der Frau, mit der er seit einigen Jahren immer wieder zusammen war: "Ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich werde dir etwas erzählen, was ich noch nie jemandem in meinem Leben erzählt habe."

Joyce sagte: "Du meinst etwas, das du während des Krieges getan hast?"

Das stoppte ihn. "Woher weißt du das?"

"Als du in Italien warst und den Deserteur erschossen hast?"

Harry sagte nichts und starrte sie an.

Elmore Leonard: Pronto (English)







Werfen Sie einen aufrichtigen Blick auf sich selbst. Wo stehen Sie in Ihrem Leben? Welche Prioritäten haben Sie bisher gesetzt und was haben Sie mit der Zeit vor, die Ihnen noch bleibt?

Wir sind eine Mischung aus Licht und Schatten, aus guten Eigenschaften und Fehlern. Sind wir wirklich das Beste, was wir sein können? Müssen wir so bleiben, wie wir jetzt sind? Wenn nicht, was können wir tun, um uns zu verbessern? Das sind Fragen, die es wert sind, gestellt zu werden, vor allem, wenn wir zu dem Schluss gekommen sind, dass eine Veränderung sowohl wünschenswert als auch möglich ist.

Matthieu Ricard: Die Kunst der Meditation







Debbie kam in mein Zimmer, mit feierlichem Gesicht, wie Weihnachten. Ich drückte irritiert auf die Stopptaste meines Diktiergerätes und schaute sie ungeduldig an. Ich war ziemlich im Stress.

"Was ist denn", sagte ich ungehalten.

"Jetzt rate mal, wer gerade angerufen hat!"

"Der Papst", knurrte ich.

"Quatsch", sagte sie. Sie rückte sich den Besuchersessel vor meinen Schreibtisch und setzte sich. In aller Ruhe. Man muss sich Debbie wohlgeformt und hübsch vorstellen, von warmbrauner Hautfarbe, denn ihr Vater diente bei der Army, taufte sie auf den überaus klangvollen Namen "Deborah Frances April Washington" und liess sich auf Nimmerwiedersehen zurück in die Staaten versetzen. Debbie ist meine Sekretärin, rechte und linke Hand, und ich wünschte, sie wäre noch viel mehr. Na ja, eines Tages vielleicht.

Gert Richter: Honeymoon auf Hawaii







"Eigentlich ist es ja ganz einfach", sagt Hannah. Sie hat mich zum Tee eingeladen; es gibt dünne ("hauchzarte") Orangenplätzchen, die ich mit spitzen Fingern aus der Chinaschale angeln muss, die sie mir hinstreckt.

Ihr Mann, Harry, ein fetter alter Griesgram, ehemaliger Vorstandsvorsitzender einer nicht mal börsennotierten britischen Aktiengesellschaft (irgendwas mit Starkstrom), hat sich gleich eine Handvoll Kekse genommen und alle auf einmal in den Mund gestopft. Was ihn nicht hindert zu sagen: "Jeden Tag eine Seite, Dottore, dann haben Sie in einem Jahr Ihren Krimi fertig."

Soweit die Theorie, denke ich. Pure Provokation ist das. Ich kenne Harry. Ich weiss, dass er mich verachtet und alles, was ich je in meinem Leben getan habe. Ich finde es ja selbst nicht so toll, aber gleich verachten? Für Harry ist das Grund genug, mir nichts, aber auch gar nichts zuzutrauen. Nicht einmal, einen Krimi zu schreiben.

Nicht, dass ich vorhätte, einen Krimi zu schreiben. Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas macht. Aber jetzt ärgert es mich doch. Einfach jeden Tag eine Seite schreiben! Als ob das so einfach wäre.

Gert Richter: HAPPY NEW YEAR: Ein Liebeskrimi am Mittelmeer







Die Geschichte hat uns im Stich gelassen, aber das macht nichts.

Um die Jahrhundertwende beschlossen ein alternder Fischer und seine Frau, Untermieter aufzunehmen, um sich etwas dazuzuverdienen. Beide waren in dem Fischerdorf Yeongdo geboren und aufgewachsen, einer fünf Meilen breiten Insel vor der Hafenstadt Busan. In ihrer langen Ehe brachte die Frau drei Söhne zur Welt, aber nur Hoonie, der älteste und schwächste, überlebte. Hoonie kam mit einer Gaumenspalte und einem verdrehten Fuß zur Welt; er hatte jedoch kräftige Schultern, eine gedrungene Statur und einen goldenen Teint. Selbst als junger Mann behielt er das milde, nachdenkliche Temperament seiner Kindheit.

Lee, Min Jin: Ein einfaches Leben







Kaltes, graues Wasser schlug glucksend gegen die zerbrechlich aussehenden Seitenwände des Fiberglasdinghis. Ich zitterte vor Kälte und dachte an die hundertfünfzig Meter bis zum Meeresboden unter uns. Wir trieben mit abgestelltem Außenbordmotor etwa eine Stunde von Oslo entfernt auf dem Wasser des Fjords, und mein Freund Arne Kristiansen brauchte den ganzen Nachmittag, um mir ein paar einfache Fragen zu beantworten. Ein grauer Tag, feucht, regnerisch. Der Wind war beißend kalt und sang mir in den Ohren. Meine Füße waren Eisklumpen. Hier draußen auf dem Fjord war es sehr viel kälter als an Land – die Oktobertemperatur bewegte sich auf den Gefrierpunkt zu, und nur Arne war entsprechend angezogen.

Dick Francis: Schlittenfahrt







Seelische Qualen sind verpönt. Man soll nicht weinen. Insbesondere soll man nicht weinen, wenn man zweiunddreißig ist und einigermaßen vorzeigbar. Wenn die Ehefrau seit sechs Monaten tot ist und alle anderen mit der Trauer fertig sind. Nun ja, sagen sie, er kommt schon drüber weg. Es gibt noch andere hübsche Frauen. Die Zeit heilt alle Wunden, sagen sie. Eines Tages heiratet er wieder. Ohne Zweifel haben sie recht. Aber, du lieber Gott… die Leere in meinem Haus. Die tiefe, erdrückende, unausweichliche Einsamkeit. Die Stille, wo sonst Lachen war, der kalte Kamin, in dem bei meiner Rückkehr sonst Feuer loderte, die bleibende Lücke in meinem Bett.

Dick Francis: Weinprobe







"Es gibt keinen perfekten Mord", sagte Tom zu Reeves. "Das ist nur ein Gesellschaftsspiel, sich einen auszudenken. Natürlich könnte man sagen, dass es eine Menge ungelöster Morde gibt. Das ist etwas anderes." Tom war gelangweilt. Er ging vor seinem großen Kamin auf und ab, in dem ein kleines, aber gemütliches Feuer knisterte. Tom hatte das Gefühl, dass er auf eine spießige, hochtrabende Art gesprochen hatte. Aber der Punkt war, dass er Reeves nicht helfen konnte, und das hatte er ihm bereits gesagt.

Patricia Highsmith: Ripleys Game







Tom war im Garten, als das Telefon läutete. Er überließ es Frau Annette, seiner Haushälterin, den Hörer abzunehmen, und kratzte weiter an dem weichen Moos, das an den Seiten der Steintreppe klebte. Es war ein nasser Oktober.

"M. Tome!", erklang die Sopranstimme von Frau Annette. "Es ist London!"

"Ich komme", rief Tom. Er warf die Kelle weg und ging die Treppe hinauf.

Das Telefon im Erdgeschoss stand im Wohnzimmer. Tom setzte sich nicht auf das gelbe Satinsofa, denn er trug eine Levis.

"Hallo, Tom. Jeff Constant. Hast du ..."

Patricia Highsmith: Ripley Under Ground







Sie gingen und gingen und sangen das »Ewige Gedenken«, und jedesmal, wenn sie innehielten, schienen die Füße, die Pferdehufe, die Windstöße den Gesang harmonisch fortzusetzen. Die Passanten ließen den Trauerzug vorüber, zählten die Kränze, bekreuzigten sich. Neugierige folgten der Prozession, fragten: »Wer wird beerdigt?« Sie bekamen zur Antwort: »Shiwago.« Aha. Verstehe. »Doch nicht er. Seine Frau.« Dennoch. Gott schenke ihr das Himmelreich. Ein reiches Begräbnis.

Die letzten Minuten verflogen, gezählt, unwiederbringlich. »Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist; der Erdboden und was darauf wohnt.« Der Geistliche warf mit kreuzschlagender Geste eine Handvoll Erde auf Maria Nikolajewna Shiwago. »Im Geiste der Gerechten« wurde angestimmt. Dann hatten es alle schrecklich eilig. Der Sarg wurde geschlossen, zugenagelt, hinabgesenkt. Ein Regen von Erdklumpen prasselte auf ihn herab, vier Spaten schaufelten hastig das Grab zu. Darauf wuchs ein Hügelchen. Auf dieses stieg ein zehnjähriger Junge.

Boris Pasternak: Doktor Shiwago







Wenn Sie ein Buch schreiben, sollten Sie in erster Linie daran denken, sich selbst zu erfreuen. Wenn Sie sich selbst so lange amüsieren können, wie es dauert, ein Buch zu schreiben, können und werden die Verleger und Leser später kommen.

Patricia Highsmith: Plotting and Writing Suspense Fiction







Die Deutlichkeit meiner Erinnerungen von diesem Zeitpunkt an erstaunt mich. Ich erlangte ein aufmerksameres Bewusstsein für andere und für mich selbst. Spontaneität und ein leichter Egoismus waren für mich immer ein natürlicher Luxus gewesen. Ich hatte immer gelebt. Nun hatten mich die letzten Tage so sehr verwirrt, dass ich mich dazu veranlasst sah, nachzudenken und mich selbst beim Leben zu beobachten. Ich ging durch alle Tiefen der Selbstbeobachtung, ohne mich mit mir selbst zu versöhnen. "Dieses Gefühl", dachte ich, "dieses Gefühl für Anne ist dumm und arm, so wie der Wunsch, sie von meinem Vater zu trennen, heftig ist." Aber warum sollte ich überhaupt so über mich urteilen? War ich nicht frei zu fühlen, was geschah, weil ich einfach ich war?

Françoise Sagan: Bonjour tristesse







Es klingelt, und meine Mutter geht an die Tür unserer Wohnung im ersten Stock eines Mietshauses im Kölner Norden. Draußen im Flur stehen drei Möbelpacker, die ein altes Klavier bringen. Sie warten darauf, dass Mutter sie einlässt und ihnen zeigt, wo das Klavier abgestellt werden soll.

Mutter spricht damals nicht, die Möbelpacker scheinen aber von ihrem Stummsein zu wissen, denn sie reden Mutter sehr freundlich und vorsichtig an, und dann macht sie einige Zeichen, führt die Männer ins Wohnzimmer und zeigt ihnen den Platz, den sie zusammen mit meinem Vater leergeräumt hat. Sie deutet auf die große Lücke, und die Männer nicken und bestätigen, dass sie das Klavier in diesen Leerraum rücken werden.

Hanns-Josef Ortheil: Wie ich Klavierspielen lernte







Plötzlich das Meer, ganz nah, eine graue, stille, beinahe völlig beruhigte Fläche. Ich reckte mich auf und schaute auf die Uhr, zwei, drei Stunden hatte ich vielleicht geschlafen, jetzt war früher Morgen, kurz nach Fünf, ein Juli-Morgen an der italienischen Adria-Küste. Ich hatte das Meer einfach vergessen, jahrelang hatte ich es nicht gesehen, jetzt lag es mir wie eine weite Verheißung zu Füßen, unaufdringlich und groß, als bekäme ich mit ihm zu tun. Noch war die Sonne nicht da, der Himmel noch graublau und fahl, am Strand keine Bewegung, kein einziger Mensch, nur hier und da einige verlassene, verstreut stehende Liegestühle, Kinderspielzeug, Gerümpel, die schiefen, zusammengeklappten Sonnenschirmpilze, Liegengebliebenes …

Hanns-Josef Ortheil: Die große Liebe







Paule betrachtete ihr Gesicht im Spiegel und betrachtete die Niederlagen, die sich in 39 Jahren angesammelt hatten, eine nach der anderen, nicht mit der für diesen Fall üblichen Hektik und Verbissenheit, sondern mit einer kaum aufmerksamen Ruhe. Als ob die warme Haut, die sie manchmal mit zwei Fingern anspannte, um eine Falte zu betonen oder einen Schatten hervorzuheben, jemand anderem gehört hätte, einer anderen Paule, die sich leidenschaftlich um ihre Schönheit sorgte und sich nur schwer von einer jugendlichen Frau zu einer jungen Frau wandeln konnte: einer Frau, die sie kaum wiedererkannte. Sie hatte sich vor diesen Spiegel gestellt, um die Zeit totzuschlagen, und - bei diesem Gedanken musste sie lächeln - sie entdeckte, dass er es war, der sie langsam und behutsam tötete, indem er sich an einem Äußeren zu schaffen machte, von dem sie wusste, dass es geliebt worden war.

Francoise Sagan: Aimez-vous Brahms







Dennis Lenahan, der Turmspringer, erzählte den Leuten, dass der Tank so aussah, als ob man ein Fünfzig-Cent-Stück auf den Boden legte und darauf hinunterschaute, und zwar von der Spitze der achtzig Fuß hohen Stahlleiter aus. Der Tank selbst hatte einen Durchmesser von zwei Metern, und das Wasser darin war nie mehr als einen Meter tief. Dennis sagte, dass man von so weit oben mit den Füßen zuerst aus dem Tauchgang kommen und ins Wasser gehen sollte, wobei die Hände im letzten Moment das Gemächt schützen und der Hintern fest zusammengepresst werden musste, sonst war es, als würde man einen Einlauf mit 40.000 Gallonen bekommen.

Elmore Leonard: Tishomingo Blues (English)







Tom blickte hinter sich und sah den Mann aus dem Grünen Käfig kommen und auf ihn zugehen. Tom lief schneller. Es bestand kein Zweifel, dass der Mann hinter ihm her war. Tom hatte ihn vor fünf Minuten bemerkt, wie er ihn von einem Tisch aus aufmerksam beobachtete, als wäre er sich nicht ganz sicher, aber fast. Er hatte so sicher ausgesehen, dass Tom sein Getränk in aller Eile hinunterstürzte, bezahlte und ausstieg.

An der Ecke lehnte Tom sich vor und trabte über die Fifth Avenue. Da war Raouls. Sollte er die Chance ergreifen und noch einen Drink nehmen? Das Schicksal herausfordern und so weiter? Oder sollte er sich zur Park Avenue durchschlagen und versuchen, ihn in ein paar dunklen Gängen zu verlieren? Er ging ins Raouls.

Patricia Highsmith: Der talentierte Mr. Ripley







Die Jalousien sind zugezogen, die Wohnung ist dunkel bis auf das Mondlicht in der Küche und das Flimmern des Zwölf-Zoll-Schwarz-Weiß-Bildschirms im Wohnzimmer. Meine Eltern und ich sind still. Die einzigen Lebenszeichen krächzen und flimmern auf dem riesigen Fernseher. Meine Mutter und ich haben den ganzen Tag geschaut, und jetzt ist mein Vater nach Hause gekommen, um uns Gesellschaft zu leisten.

Francine Prose: The Vixen (English)







Big John Masters war groß, fett und ölig. Er hatte glatte blaue Wangen und sehr dicke Finger, deren Knöchel Grübchen waren. Sein braunes Haar war glatt aus der Stirn gekämmt, und er trug einen weinfarbenen Anzug mit aufgesetzten Taschen, eine weinfarbene Krawatte und ein hellbraunes Seidenhemd. Die dicke braune Zigarre zwischen seinen Lippen war mit viel Rot und Gold umrandet.

Raymond Chandler: Spanish Blood (English)







Der Mann und das Mädchen gingen langsam, dicht nebeneinander, an einem verwaschenen Schild vorbei, auf dem stand: Surprise Hotel. Der Mann trug einen lilafarbenen Anzug und einen Panamahut über seinem glänzenden, geglätteten Haar. Er ging breitbeinig und lautlos.

Das Mädchen trug einen grünen Hut, einen kurzen Rock, durchsichtige Strümpfe und viereinhalb Zentimeter hohe französische Absätze. Sie roch nach Midnight Narcissus.

An der Ecke lehnte sich der Mann nahe heran und sagte etwas in das Ohr des Mädchens. Sie zuckte von ihm weg und kicherte.

"Du musst Schnaps kaufen, wenn du mich nach Hause bringst, Smiler."

"Nächstes Mal, Baby. Ich habe gerade keine Kohle."

Die Stimme des Mädchens wurde hart. "Dann sage ich dir im nächsten Block auf Wiedersehen, Hübscher."

"Von wegen, Baby", antwortete der Mann.

Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordes







Das Grundproblem der Kommunikation besteht darin, eine an einer anderen Stelle ausgewählte Botschaft an einer anderen Stelle entweder genau oder annähernd wiederzugeben. Häufig haben die Botschaften eine Bedeutung.

- Claude Shannon (1948)

Nach 1948, dem entscheidenden Jahr, glaubte man, das klare Ziel zu erkennen, das Claude Shannon zu seiner Arbeit inspirierte, aber das war eine Rückschau. Er sah das anders: "Mein Geist wandert umher, und ich denke Tag und Nacht über verschiedene Dinge nach. Wie ein Science-Fiction-Autor denke ich: Was wäre, wenn es so wäre?"

James Gleick: Die Information: Eine Geschichte, eine Theorie, eine Flut







Niemand sprach nur auf den Trommeln. Die Trommler sagten nicht: "Komm zurück nach Hause", sondern:

"Mach, dass deine Füße zurückkommen, so wie sie gegangen sind,
mach, dass deine Beine zurückkommen, so wie sie gegangen sind,
pflanze deine Füße und deine Beine unten,
in dem Dorf, das uns gehört.

Sie konnten nicht einfach nur "Leiche" sagen, sondern würden es weiter ausführen: "die auf dem Rücken auf Erdklumpen liegt". Statt "Habt keine Angst" sagten sie: "Holt euer Herz aus eurem Mund, euer Herz aus eurem Mund, holt es von dort wieder herunter." Die Trommeln erzeugten Fontänen der Redekunst. Das schien ineffizient. War es Großsprecherei oder Bombast? Oder etwas anderes?

James Gleick: Die Information: Eine Geschichte, eine Theorie, eine Flut







Im Frühling ihres zweiundzwanzigsten Lebensjahres verliebte sich Sumire zum allerersten Mal. Heftig und ungezügelt, wie ein Wirbelsturm über eine weite Ebene rast, fegte diese Liebe über sie hinweg. Ein Sturm, der alles niedermäht, vom Boden fegt und hoch in die Lüfte schleudert, wahllos in Stücke reißt, wütet, bis kein Ding mehr auf dem anderen ist. Ohne in seiner Kraft auch nur für einen Augenblick nachzulassen, braust er über die Meere, legt Angkor Wat erbarmungslos in Schutt und Asche, setzt einen indischen Dschungel mitsamt seinen bedauernswerten Tigern in Brand und begräbt als persischer Wüstenwind eine orientalische Festungsstadt im Sand. Kurzum, es ging um eine Leidenschaft von monumentalen Ausmaßen. Sumires Liebe war siebzehn Jahre älter als sie und verheiratet. Überdies, so sollte man hinzufügen, handelte es sich um eine Frau.

Haruki Murakami: Sputnik Sweetheart







Euch kann ich’s ja ruhig sagen: Die Sache mit Emil kam mir selber unerwartet. Eigentlich hatte ich ein ganz anderes Buch schreiben wollen. Ein Buch, in dem, vor lauter Angst, die Tiger mit den Zähnen und die Dattelpalmen mit den Kokosnüssen klappern sollten. Und das kleine schwarz-weiß karierte Kannibalenmädchen, das quer durch den Stillen Ozean schwamm, um sich bei Drinkwater & Co. in Frisco eine Zahnbürste zu holen, sollte Petersilie heißen. Nur mit dem Vornamen natürlich.

Einen richtigen Südseeroman hatte ich vor. Weil mir mal ein Herr mit einem großen Umhängebart erzählt hatte, so was würdet ihr am liebsten lesen.

Erich Kästner: Emil und die Detektive







Ferien!

»Nichts ist schöner als der Beginn der Sommerferien«, stellte Julian zufrieden fest. »Man hat das Gefühl, als würden sie jahrelang dauern.«

»Du sagst es, Julian«, pflichtete ihm Anne, seine kleine Schwester, bei. »Zuerst schleichen sie so schön langsam dahin, dann aber rasen sie im Galopp vorbei.«

»Timmy gibt dir auch recht, Anne«, sagte George und tätschelte den großen Hund, der neben ihnen lag. Auch Dick streichelte ihn und Timmy leckte beiden die Hände.

Enid Blyton: Fünf Freunde beim Wanderzirkus







Meir Dagan, Chef des israelischen Mossad, legendärer Spion und Attentäter, betrat den Raum und stützte sich auf seinen Gehstock. Er benutzte ihn, seit er in den 1970er Jahren als junger Sondereinsatzoffizier im Gazastreifen von einer Mine palästinensischer Terroristen verwundet wurde, die er dort gelegt hatte. Dagan, der sich mit der Macht von Mythen und Symbolen auskannte, hütete sich, die Gerüchte zu dementieren, dass in seinem Stock eine Klinge verborgen sei, die er per Knopfdruck entblößen könne.

Ronen Bergman: Steh auf und töte zuerst: Die geheime Geschichte von Israels gezielten Attentaten.







Das erste Kapitel

enthält eine Fassadenkletterei; einige Tanzstundenjünglinge; den Primus, der kolossal wütend werden kann; einen großen weißen Umhängebart; den Bericht über die Abenteuer des »Fliegenden Klassenzimmers«; eine Theaterprobe mit Versen und eine unerwartete Unterbrechung.

Zweihundert Schemel wurden gerückt. Zweihundert Gymnasiasten standen lärmend auf und drängten zum Portal des Speisesaals. Das Mittagessen im Kirchberger Internat war zu Ende.

»Teufel, Teufel!«, sagte der Tertianer Matthias Selbmann zu seinem einen Tischnachbarn. »Hab ich einen Hunger! Ich brauche dringend zwanzig Pfennige für eine Tüte Kuchenränder. Hast du Moneten?«

Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer







Blut! Daran gab’s keinen Zweifel!

Er starrte durch das Vergrößerungsglas auf den roten Fleck. Dann schob er die Pfeife in den anderen Mundwinkel und seufzte. Natürlich war es Blut. Was sollte denn auch sonst kommen, wenn man sich in den Daumen geschnitten hatte?

Dieser Fleck da hätte der endgültige Beweis dafür sein sollen, dass Sir Henry seine Frau durch den abscheulichsten Mord beiseitegebracht hatte, den ein Detektiv jemals aufklären musste. Aber leider – es war anders! Das Messer war ausgerutscht, als er seinen Bleistift anspitzen wollte – das war die traurige Wahrheit. Und das war wahrhaftig nicht Sir Henrys Schuld. Vor allen Dingen deswegen, weil Sir Henry, das Rindvieh, nicht einmal existierte.

Astrid Lindgren: Kalle Blomquist







Jetzt will ich eine Liebesgeschichte erzählen, keine, die ich gelesen oder mir ausgedacht, sondern nur eine, die ich gehört habe. Oft gehört habe. Darin ist mehr Liebe als in allen, die ich in Büchern fand, und für mich ist sie rührend und schön. Aber das liegt vielleicht daran, dass sie von zwei Menschen handelt, die meine Eltern werden sollten.

Astrid Lindgren: Das entschwundene Land







Ich heiße Lisa. Ich bin ein Mädchen. Das hört man übrigens auch am Namen. Ich bin sieben Jahre alt und werde bald acht.

Manchmal sagt Mama: »Du bist ja mein großes Mädchen, du kannst mir also heute beim Abwaschen helfen.«

Und manchmal sagen Lasse und Bosse: »Kleine Mädchen dürfen nicht mit uns Indianer spielen. Du bist zu klein.«

Daher weiß ich nicht, ob ich eigentlich groß oder klein bin. Wenn die einen finden, dass man groß ist, und andere, dass man klein ist, so ist man vielleicht gerade richtig.

Astrid Lindgren: Wir Kinder aus Bullerbü







Hamburg, das Tor zur Welt – das Leben der Vorväter studieren und Kontakt aufnehmen zu den Lebenden. Sich einreihen in den lebendigen Strom: Vor sie hintreten und sagen: Ich bin wieder da. – Und angenommen werden von ihnen wie der verlorene Sohn.

Onkel Karl und Tante Hanni. Onkel Gustav in Bargfeld und im Staatsarchiv diverse Unterlagen: Daß man im Prinzip ja Hamburger ist, das geht daraus hervor, und daß man sich nicht zu verstecken braucht. In der Katharinenkirche sogar ein Epitaph, gestiftet vom Ahnherrn: Den würde man sich gelegentlich mal ansehen und man würde innewerden, daß das eine Logik hat, dies Zurückkehren in die Stadt der Väter.

Walter Kempowski: Herzlich willkommen







Ich hatte einen Fotoapparat in der Hand und stand genau vor dem Schild: FOTOGRAFIEREN VERBOTEN! – Auf dem Polizeirevier wurde ich nur kurz verhört, und dann wurde ich in Handschellen zum Russen gebracht. Wie in einem Rausch erlebte ich das, von der Wirklichkeit total abgeschnitten und nur noch automatisch funktionierend …

Walter Kempowski: Ein Kapitel für sich







Im Morgengrauen holten sie mich aus dem Bett. Zwei trugen Lederjacken. Da hast du was zu melden, wenn du wieder rüberkommst, dachte ich. Einer nahm aus dem Wäscheschrank Briefe und Tagebücher. Ein anderer strich über die Tapete.

Zwei Pullover zog ich mir über, meinen Ring konnte ich unbemerkt in die Nachttischschublade abstreifen.

Sie legten mir keine Handschellen an. Beim Hinuntergehen faßte einer mit zwei Fingern meinen Ellbogen.
Oben stand meine Mutter mit aufgelöstem Haar.
Auf der Straße Doppelposten mit Gewehr.
Im Fenster des Hausmeisters bewegte sich die Gardine; im Schaufenster der Drogerie Fotos vom Strand.

Im Opel Olympia: Trug der Fahrer eine Pickelmütze?

Walter Kempowski: Im Block







Wenn ich mich etwas vorbeugte, konnte ich vom Schlafzimmerfenster aus alles gut überblicken. Drogerie Kotelmann, Schlachter Timm. Seifenheimchen schloß das Fenster.

Gegenüber die Paulstraße, die machte hinten einen Knick: bis dahin war das Feuer gedrungen, bei der »Katastrophe«, wie die Leute die Angriffe von 1942 nannten. Vor der Katastrophe und nach der Katastrophe. Jetzt würde es vor und nach dem Zusammenbruch heißen.

Bis zu Bäcker Kofahl hatte es sich gefressen. »O watt Löckers«, hatte der alte Kofahl gesagt, in seiner kleinkarierten Bäckerbüx. »All dat Mähl …«

Walter Kempowski: Uns gehts ja noch gold







Morgens hatten wir noch in der alten Wohnung auf grauen Packerkisten gehockt und Kaffee getrunken (gehört das uns, was da drin ist?). Helle Felder auf den nachgedunkelten Tapeten. Und der große Ofen, wie der damals explodierte.

Zu Mittag sollte schon in der neuen Wohnung gegessen werden.

Die Zimmerpalme wurde dem Gärtner geschenkt, die würde man nicht mehr stellen können. Wunderbar, wie die sich in all den Jahren entwickelt hatte. Den gelben Onkel nahm man mit, mit dem gab es ab und zu »hau-hau«! Schön würde es werden in der neuen Wohnung, herrlich. Wir sollten sehn: zauberhaft.

Walter Kempowski: Tadellöser & Wolff







Ich dachte daran, wie Jennifer Moreau mir gesagt hatte, dass ich niemals ihre Schönheit beschreiben dürfe, weder ihr noch sonst jemandem gegenüber. Als ich sie fragte, warum ich auf diese Weise zum Schweigen gebracht wurde, sagte sie: "Weil du nur alte Worte hast, um mich zu beschreiben". Das ging mir durch den Kopf, als ich auf den schwarz-weiß gestreiften Zebrastreifen trat, an dem alle Fahrzeuge anhalten müssen, damit die Fußgänger die Straße überqueren können. Ein Auto kam auf mich zu, aber es hielt nicht an. Ich musste nach hinten springen und fiel auf meine Hüfte, wobei ich mich mit den Händen vor dem Sturz schützte. Das Auto kam zum Stehen und ein Mann kurbelte das Fenster herunter. Er war in den Sechzigern, silbernes Haar, dunkle Augen, schmale Lippen. Er fragte mich, ob es mir gut ginge. Als ich nicht antwortete, stieg er aus seinem Auto aus.

Deborah Levy: Der Mann, der alles sah







Zwei Wochen nach seinem fünfundzwanzigsten Geburtstrag stieg Ichiro an der Ecke Second und Main in Seattle aus einem Bus. Er war vier Jahre weg gewesen, zwei im Lager und zwei im Gefängnis.

Als er an diesem Herbstmorgen mit einem kleinen schwarzen Koffer die Straße entlangging, fühlte er sich wie ein Eindringling in einer Welt, auf die er keinen Anspruch hatte. Es war nur gerecht, dass er sich so fühlte, denn er hatte sich aus freien Stücken vor den Richter gestellt und gesagt, dass er nicht in die Armee gehen würde. Damals gab es für ihn keine andere Wahl.

John Okada: No-No Boy (English)







"Es tut mir leid." Hirokos Stimme, die zum Singen gemacht ist, klingt flach, provisorisch.

"Was ist los?" Ich taste nach dem Telefon und sehe die roten Ziffern auf dem Nachttisch des Hotels: 1:23.

"Mein Vater jetzt Krankenhaus", sagt meine Frau, ein Dutzend oder mehr Zeitzonen entfernt. "Es tut mir leid."

Ich versuche, einen klaren Kopf zu bekommen. Um mich herum taumeln Betrunkene durch die warme Florida-Nacht und bringen mich immer weiter weg.

"Was ist passiert?"

"Ich weiß nicht." Ich habe sie noch nie so zögernd gehört. "Ganz weiß. Der Arzt sagt, sein Blut ganz weiß."

"Ich werde bald da sein", sage ich, obwohl ich weiß, dass Worte nutzlos sind, wenn es um Angst geht. Ich verfluche meinen Job dafür, dass er mich so weit weg gebracht hat. Vor meinem geistigen Auge sehe ich meine ultraschicke, motorradfahrende Frau ganz allein in einem Raum voller leerer Betten.

Pico Iyer: Herbstlicht







Der Schnee hatte nachgelassen, aber die Temperatur blieb unter Null. Die Straße war auf beiden Seiten von einem Wald aus Weißbirken gesäumt. Der junge Mann stapfte weiter, von Kopf bis Fuß gegen die Kälte eingepackt, der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Er war bereits eine Stunde gelaufen. Dann, endlich, sah er ein Haus. Eine Hütte - aus grob behauenen Holzstämmen. Eindeutig bewohnt. Der rauchende Schornstein bewies das.

Das Gesicht des jungen Mannes hellte sich auf.

Hideo Furukawa: Belka, warum bellst du nicht?







Ich fand Edward Dollery, siebenundvierzig Jahre alt, ehemaliger Buchhalter, verschwenderisch und unehrlich, der in einem Haus wohnte, das auf den Namen Carol Pick gemietet war. Es lag in einem neuen, auf Kuhweiden errichteten Vorort aus Backsteinmauern östlich der Stadt, einer dieser seltsam stillen Siedlungen, in denen das Durchschnittsalter zwölf Jahre beträgt und man den Druck der Hypotheken auf der Haut spüren kann.

Eddie Dollerys Haut sah nicht gut aus. Er hatte sich beim Rasieren mehrmals geschnitten, und jede Schnittwunde trug eine kleine, rot umrandete Rosette aus Toilettenpapier. Der Rest von Eddie, klein und aufgedunsen, trug das gestrige Businesshemd aus feinster Baumwolle, gestreift, und eine scharlachrote Pyjamahose aus Seide. Der Gesamteindruck war nicht berauschend.

Peter Temple: Bad Debts (Jack Irish Thriller in English)







Die beiden Mädchen hüpften Hand in Hand die schmale Seitenstraße hinunter. Die Sozialwohnungen sahen hier alle gleich aus, kastenförmig und grau. Nur die Türen waren andersfarbig gestrichen.

"B. O. R. I. N. G.", sangen sie im Takt mit jedem federnden Schritt.

Die Nachmittagssonne wärmte ihre Nacken und Arme, während ihre Füße genüsslich über den rissigen grauen Asphalt scharrten und den Kies von der Bordsteinkante in den Rinnstein streuten.

K.L. Slater: The Silent Ones: An absolutely gripping psychological thriller







Es gibt so viele Wenns, und so viele "Wenn doch nur". Wenn nur das Rugby-Training nicht überhand genommen hätte. Wenn Evan nur nicht losgezogen wäre und einen Stiefel verloren hätte. Hätte er doch nur den Zeitungsladen umgangen und den früheren Bus genommen, den er nur um zwanzig Sekunden verpasst hat.

Wenn wir doch nur alle nachts ruhig schlafen könnten, weil wir wissen, dass wir vor bösen Menschen sicher sind.

Erin Kinsley: Gefunden (English)







Flugblätter


Bei Tagesanbruch regnen sie vom Himmel. Sie wehen über die Befestigungsmauern, fliegen radschlagend über die Dächer und flattern in die Schluchten zwischen den Häusern. Ganze Straßen sind von ihren Wirbeln erfüllt, weiß blitzen sie auf dem Pflaster. Dringende Mitteilung an die Bewohner dieser Stadt, steht auf ihnen. Begeben Sie sich sofort aufs offene Land.

Die Flut steigt. Klein, gelb und bucklig hängt der Mond am Himmel. Auf den Dächern des Strandhotels im Osten und in den Gärten dahinter lädt ein halbes Dutzend amerikanischer Artillerie-Einheiten ihre Mörser mit Brandgranaten.

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen







Es ist nicht meine Schuld. Sie können mir also nicht die Schuld geben. Ich habe es nicht getan und habe keine Ahnung, wie es passiert ist. Es dauerte nicht länger als eine Stunde, nachdem sie sie zwischen meinen Beinen herausgezogen hatten, bis ich merkte, dass etwas nicht stimmte. Wirklich falsch. Sie war so schwarz, dass sie mir Angst machte.

Mitternachtsschwarz, sudanesisch schwarz. Ich bin hellhäutig, habe schönes Haar, das, was wir High Yellow nennen, und Lula Anns Vater ist es auch. In meiner Familie gibt es niemanden, der auch nur annähernd diese Farbe hat. Teer kommt dem am nächsten, aber ihr Haar passt nicht zur Haut. Es ist anders - glatt, aber gelockt wie bei den nackten Stämmen in Australien. Man könnte meinen, sie sei ein Rückfall, aber in welche Vergangenheit? Du hättest meine Großmutter sehen sollen; sie gab sich als Weiße aus und sagte nie ein Wort zu einem ihrer Kinder. Jeden Brief, den sie von meiner Mutter oder meinen Tanten bekam, schickte sie ungeöffnet zurück.

Toni Morrison: Gott hilf dem Kind







124 war boshaft. Voller Babygift. Die Frauen im Haus wussten es und die Kinder auch. Jahrelang ertrug jeder die Bosheit auf seine Weise, aber 1873 waren Sethe und ihre Tochter Denver die einzigen Opfer. Die Großmutter, Baby Suggs, war tot, und die Söhne, Howard und Buglar, waren weggelaufen, als sie dreizehn Jahre alt waren - sobald ein Blick in einen Spiegel ihn zerbrach (das war das Signal für Buglar); sobald zwei winzige Handabdrücke im Kuchen erschienen (das war es für Howard).

Toni Morrison: Beloved







Es war etwa elf Uhr vormittags, Mitte Oktober, die Sonne schien nicht, und in der Klarheit des Vorgebirges sah es nach hartem, nassem Regen aus. Ich trug meinen puderblauen Anzug, mit dunkelblauem Hemd, Krawatte und Einstecktuch, schwarze Brogues, schwarze Wollsocken mit dunkelblauen Uhren darauf. Ich war adrett, sauber, rasiert und nüchtern, und es war mir egal, wer das wusste. Ich war alles, was ein gut gekleideter Privatdetektiv sein sollte. Ich machte einen Besuch bei vier Millionen Dollar.

Raymond Chandler: The Big Sleep







"Und was jetzt?", fragte er.

"Eine schnelle Flucht", sagte sie und schob ihre schicken Schuhe in den Fußraum des Beifahrers. "Die haben mich umgebracht", sagte sie und schenkte ihm ein reumütiges Lächeln, weil sie ein Vermögen gekostet hatten. Er wusste es - er hatte sie bezahlt. Sie hatte bereits ihren Brautschleier abgenommen und ihn zusammen mit ihrem Brautstrauß auf den Rücksitz geworfen, und nun begann sie, mit dem Gestrüpp in ihrem Haar zu kämpfen. Die zarte Seide ihres Brautkleides war bereits zerknittert, wie Mottenflügel. Sie warf ihm einen Blick zu und sagte: "Wie du zu sagen pflegst - Zeit, dass wir uns aus dem Staub machen."

"Okay, dann. Fahren wir auf den Highway", sagte er und ließ den Motor an.

Kate Atkinson: Big Sky







Wäre der alte Major Dover nicht bei einem Rennen in Taunton tot umgefallen, wäre Jim gar nicht erst nach Thursgood's gekommen. Er kam mitten im Schuljahr ohne Vorstellungsgespräch, es war Ende Mai, auch wenn das Wetter es nicht vermuten ließ, und wurde von einer Agentur angestellt, die sich auf die Vermittlung von Lehrern für Vorbereitungsschulen spezialisiert hatte, um den Unterricht des alten Dover zu übernehmen, bis ein geeigneter Lehrer gefunden werden konnte. "Ein Linguist", sagte Thursgood im Gemeinschaftsraum, "eine vorübergehende Maßnahme", und strich sich zur Selbstverteidigung die Stirnlocke zurück. "Priddo." Er gab die Schreibweise "P-R-I-D" an - Französisch war nicht Thursgoods Fach, also konsultierte er den Zettel -"E-A-U-X, Vorname James. Ich denke, er wird uns bis Juli sehr gut dienen."

John le Carré: Tinker Tailor Soldier Spy







Gestern Nachmittag, gestern, ging ich die Straße entlang zum Postamt und dachte daran, wie krank ich vom Schnee war, von den Halsschmerzen, dem ganzen langwierigen Ende des Winters, und ich wünschte, ich könnte nach Florida abhauen, wie Clare. Es war Mittwochnachmittag, mein halber Arbeitstag. Ich arbeite in King's Department Store, einem Kaufhaus, das trotz des Namens nichts weiter ist als ein Konfektionsgeschäft und ein Haushaltswarengeschäft. Früher gab es dort auch Lebensmittel, aber daran kann ich mich kaum noch erinnern. Mama nahm mich immer mit rein und setzte mich auf den hohen Schemel, und der alte Mr. King gab mir eine Handvoll Rosinen und sagte, die gebe ich nur den hübschen Mädchen.

Alice Munro: Postcard, in: Ausgewählte Geschichten







Für die meisten von uns ist die Vorstellung, dass der Schöpfer die Kreativität fördert, ein radikaler Gedanke. Wir neigen dazu, zu denken oder zumindest zu befürchten, dass kreative Träume egoistisch sind, etwas, das Gott für uns nicht gutheißen würde. Schließlich ist unser kreativer Künstler ein inneres Kind und neigt zu kindischem Denken. Wenn unsere Mutter oder unser Vater Zweifel oder Missbilligung für unsere kreativen Träume geäußert haben, projizieren wir diese Haltung vielleicht auf einen elterlichen Gott. Dieses Denken muss rückgängig gemacht werden.

Julia Cameron: Der Weg des Künstlers







Am Anfang hinterließ ich manchmal Botschaften auf der Straße.

Jemand lebt im Louvre, lauteten einige dieser Botschaften. Oder in der National Gallery.
Natürlich konnten sie so nur lauten, wenn ich in Paris oder London war. Jemand lebt im Metropolitan Museum, so lauteten sie nämlich, als ich noch in New York war.
Niemand kam, selbstverständlich. Schließlich hörte ich auf, Botschaften zu hinterlassen.
Um die Wahrheit zu sagen, vielleicht hinterließ ich insgesamt nur drei oder vier Botschaften.
Ich habe keine Ahnung, wie lange es her ist, seit ich das getan habe. Müsste ich schätzen, ich glaube, ich würde zehn Jahre schätzen.

David Markson: Wittgensteins Mätresse







Führ dich natürlich auf

Schriftsteller neigen gattungsmäßig zum Gaffen. Sie lauern und starren gern. Sie sind geborene Zuschauer. Sie sind Betrachter. In der U-Bahn sind sie es, deren zwangloses Starren manchmal etwas Gespenstisches bekommt. Etwas Raubtierhaftes. Das liegt daran, dass das Tun und Treiben der Menschen die Nahrung des Schriftstellers sind. Schriftsteller beobachten andere Menschen so, wie Schaulustige bei Autounfällen verlangsamen: Sie selbst wollen unbedingt Zeugen sein.

David Foster Wallace: Der Spaß an der Sache: E Unibus Pluram: Fernsehen und Literatur in den USA







Die beste mir bekannte Metapher für einen Schriftsteller findet sich in Don DeLillos Roman Mao II, wo er ein Buchprojekt mit einem scheußlich missgebildeten Kind vergleicht, das dem Autor auf Schritt und Tritt folgt, immer hinter ihm herkriecht (also auf den Böden von Restaurants herumkrebst, in denen der Autor zu essen versucht, morgens als Erstes am Fuß vom Bett auftaucht und so), das scheußlich entstellt ist, einen Wasserkopf und Conterganarme, aber keine Nase hat, das inkontinent und zurückgeblieben ist, beim Quengeln und Plappern und Brüllen mit Rückenmarksflüssigkeit sabbert und vom Schriftsteller geliebt werden will – es will das, was es dank seiner Scheußlichkeit garantiert bekommt: die ungeteilte Aufmerksamkeit des Autors.

David Foster Wallace: Der Spaß an der Sache







Die Amerikanische Akademie für Notfallmedizin bestätigt: Jedes Jahr werden ein bis zwei Dutzend erwachsene US-Amerikaner in die Notaufnahmen eingeliefert, weil sie sich kastriert haben. Meist mit Küchenwerkzeugen, manchmal mit Drahtzangen. Überlebende Patienten beantworten die naheliegende Frage in der Regel damit, ihr Geschlechtstrieb sei zu einer Quelle unerträglicher Konflikte und Ängste geworden. Der Wunsch nach vollkommener Triebbefriedigung bei gleichzeitiger realer Unmöglichkeit vollkommener Triebbefriedigung zu jedem beliebigen Zeitpunkt habe eine Spannung produziert, die sie nicht mehr aushalten konnten.

David Foster Wallace: Der Spaß an der Sache: Der große rote Sohn







Sie kennen diese Liebesgeschichte. Ein edler Ritter erspäht am fernen Fenster einer furchteinflößenden Burg eine holde Maid. Über die verblühte Heide hinweg wechseln sie verständnisinnige Blicke. Es funkt auf den ersten Blick. Und so prescht der edle Herr Ritter mit eingelegter Lanze auf die Burg zu. Kann er einfach so hingaloppieren und die holde Maid entführen? Nicht ganz. Erst muss er am Drachen vorbei. Oder? So eine Burg wird immer von einem ausgesucht fiesen Drachen bewacht, und der Ritter muss sich grundsätzlich dem Drachen stellen und ihn erschlagen, wenn er hier irgendwen entführen will. Wie jeder treue Ritter im Dienste der Leidenschaft stellt er sich dem Drachen im Kampfe, alles der holden Maid zuliebe.

David Foster Wallace: Der Spaß an der Sache: Neues Feuerspeien







Dies ist eine wahre Geschichte. Es ist der Sommer des Jahres 1983. Generalmajor Albert Stubblebine III sitzt hinter seinem Schreibtisch in Arlington, Virginia, und starrt auf seine Wand, an der seine zahlreichen militärischen Auszeichnungen hängen. Sie zeugen von einer langen und bedeutenden Karriere. Er ist der Chef des Nachrichtendienstes der US-Armee und hat 16.000 Soldaten unter seinem Kommando. Ihm unterstehen der Signalnachrichtendienst der Armee, der fotografische und technische Nachrichtendienst, die zahlreichen verdeckten Spionageabwehreinheiten und die geheimen militärischen Spionageeinheiten, die über die ganze Welt verstreut sind. Er wäre auch für die Verhöre der Kriegsgefangenen zuständig, aber wir schreiben das Jahr 1983, und der Krieg ist kalt, nicht heiß.

Jon Ronson: Die Männer, die auf Ziegen starren







Man erzählte sich, daß am Strande ein neuer Kurgast aufgetaucht sei: eine Dame mit einem Spitz. Dmitrij Dmitrijewitsch Gurow, der schon seit vierzehn Tagen in Jalta war und sich an das Badeleben gewöhnt hatte, interessierte sich bereits wie die andern für jeden neuen Menschen. Als er im Erfrischungspavillon von Vernet am Strande saß, sah er eine junge Dame in einem Barett über den Strand gehen; sie war klein und blond, und ein weißer Spitz folgte ihr.

Später traf er sie einige Male im Stadtpark und in den Anlagen. Sie ging immer allein, immer im gleichen Barett und immer von ihrem weißen Spitz begleitet; niemand wußte, wer sie war, und man nannte sie einfach: die Dame mit dem Spitz.

Anton Tschechov: Die Dame mit dem Hündchen







Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm. Sturm, Hagel und Donner, täglich und nächtlich, Anflug und Abflug, Übungen des Todes, ein hohles Getöse, ein Beben, ein Erinnern in den Ruinen. Noch waren die Bombenschächte der Flugzeuge leer. Die Auguren lächelten.

Niemand blickte zum Himmel auf. Öl aus den Adern der Erde, Steinöl, Quallenblut, Fett der Saurier, Panzer der Echsen, das Grün der Farnwälder, die Riesenschachtelhalme, versunkene Natur, Zeit vor dem Menschen, vergrabenes Erbe, von Zwergen bewacht, geizig, zauberkundig und böse, die Sagen, die Märchen, der Teufelsschatz: er wurde ans Licht geholt, er wurde dienstbar gemacht.

Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras







Ein lauter, kalter Wind aus Nordost trieb die Touristen am Nachmittag vom Strand weg und trieb sie in Deckung, wo sie sich bitterlich beschwerten. Er hob graue Platten des Atlantiks auf und schlug sie auf den öffentlichen Strand auf der anderen Seite der Autobahn von Bahia Mar nieder. Er rüttelte losen Sand über die Windschutzscheiben des Verkehrs, drang in die überfüllten Docks und Bootsbecken ein, knickte die Masten und machte in den Spinnweben der Takelage und der Thunfischtürme "hoooo". Für die Touristen war Fort Lauderdale an diesem Samstagnachmittag ein Reinfall. Sie hätten sich in Scranton besser aufgehoben gefühlt.

MacDonald, John D. The Quick Red Fox (English)







Im Englischen gab es kein gutes Wort für diesen hoffnungslosen Abschied. Meine Frau und ich trennten uns an einem Wintertag in London, und wir waren beide unglücklich, denn es schien, als sei unsere Ehe vorbei. Wir dachten beide: Was nun? Es war der traurigste aller Abschiede. Ich konnte mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Ich versuchte mich zu trösten, indem ich mir sagte: Das ist wie eine Reise, denn eine Reise kann entweder dein Tod oder deine Verwandlung sein, obwohl ich mir bei dieser Reise vorstellte, dass ich nur ein halbes Leben weiterleben würde.

Paul Theroux: Die glücklichen Inseln Ozeaniens: Paddeln auf dem Pazifik







Es ist zwei Uhr nachts und Sie liegen im Bett. Sie haben am nächsten Tag etwas ungeheuer Wichtiges und Anspruchsvolles zu tun - eine wichtige Sitzung, eine Präsentation, eine Prüfung. Sie müssen sich ausschlafen, aber Sie sind noch hellwach. Sie versuchen verschiedene Entspannungsstrategien - atmen Sie tief und langsam, stellen Sie sich eine erholsame Berglandschaft vor -, aber stattdessen denken Sie immer wieder, dass Ihre Karriere beendet ist, wenn Sie nicht in der nächsten Minute einschlafen. So liegen Sie da und werden von Sekunde zu Sekunde angespannter.

Robert M. Sapolsky: Why Zebras Don't Get Ulcers (Warum Zebras keine Magengeschwüre bekommen)







Die Polizei in der Kleinstadt Los Alamos, New Mexico, sorgte sich 1974 kurzzeitig um einen Mann, der Nacht für Nacht im Dunkeln umherschlich, wobei der rote Schein seiner Zigarette durch die Seitenstraßen schwebte. Er schritt stundenlang umher und ging im Sternenlicht, das durch die dünne Luft der Tafelberge hämmerte, nirgendwo hin. Die Polizei war nicht die einzige, die sich wunderte. Im nationalen Laboratorium hatten einige Physiker erfahren, dass ihr neuester Kollege mit Sechsundzwanzig-Stunden-Tagen experimentierte, was bedeutete, dass sich sein Wachrhythmus langsam an den ihren anpasste. Das grenzte an ein Wunder, selbst für die Theoretische Abteilung.

James Gleick: Chaos







Was folgt, ist ein wahrheitsgetreuer Bericht, so gut ich in der Lage bin, ihn zu geben, über meine Rolle in der britischen Täuschungsoperation mit dem Codenamen Windfall, die gegen den ostdeutschen Geheimdienst (Stasi) in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren durchgeführt wurde und zum Tod des besten britischen Geheimagenten, mit dem ich je zusammengearbeitet habe, und der unschuldigen Frau führte, für die er sein Leben gab.

John le Carré: A Legacy of Spies







Es ist dunkel. Ich betrete Ihre Praxis, kann Sie dort jedoch nirgends finden. Die Praxis ist leer. Ich sehe mich um. Das Einzige, was ich entdecke, ist Ihr Panama-Hut. Und der ist voller Spinnweben.

Die Träume meiner Patienten haben sich verändert. Mein Hut ist voller Spinnweben. Meine Praxis ist dunkel und verlassen. Ich bin nirgendwo zu finden.

Meine Patienten sorgen sich um meine Gesundheit: Werde ich den langen Zeitraum, den ihre Therapie in Anspruch nimmt, überleben? Wenn ich in Urlaub fahre, fürchten sie, dass ich nicht zurückkehre. Sie malen sich aus, wie sie an meiner Beerdigung teilnehmen oder mein Grab besuchen.

Irvin D. Yalom. Der Panama-Hut: oder Was einen guten Therapeuten ausmacht







Es war der Vorfall in Bad Godesberg, der den Beweis lieferte, obwohl die deutschen Behörden keine Möglichkeit hatten, dies zu wissen. Vor Bad Godesberg gab es einen wachsenden Verdacht, und zwar einen sehr großen. Aber die hohe Qualität der Planung im Gegensatz zur schlechten Qualität der Bombe machte aus dem Verdacht eine Gewissheit. Früher oder später, so sagt man in der Branche, wird ein Mann seinen Namen unterschreiben. Das Ärgernis liegt im Warten.

Sie explodierte viel später als beabsichtigt, wahrscheinlich gut zwölf Stunden später, um sechsundzwanzig Minuten nach acht am Montagmorgen. Mehrere nicht mehr funktionstüchtige Armbanduhren, die den Opfern gehörten, bestätigten diese Zeit. Wie bei den vorangegangenen Anschlägen in den letzten Monaten hatte es keine Vorwarnung gegeben. Aber das war auch nicht beabsichtigt gewesen.

John Le Carré: The Little Drummer Girl







Wenn ich in den letzten fünfzehn Jahren eines gelernt habe, dann ist es das: dass Mord wirklich keine große Sache ist. Es ist nur eine Grenze, bedeutungslos und willkürlich wie alle anderen - eine in den Dreck gezogene Linie. Wie das riesige Schild NO TRESPASSERS auf der Zufahrt zu St. Oswald's, das wie ein Wächter in der Luft hängt. Ich war neun Jahre alt, als wir uns zum ersten Mal begegneten, und es schwebte damals mit der grimmigen Bedrohung eines Schultyrannen über mir.

Joanne Harris: Gentlemen & Players (English)







Das vorletzte Mal, dass ich Tush Bannon lebend sah, war derselbe Tag, an dem ich das neue kleine Boot so laufen ließ, wie ich es haben wollte, nachdem ich etwa sechs Wochen lang daran herumgedoktert hatte.

Und so demostrierte ich bei der Testfahrt eine unserer heutigen Krankheiten: Man kann nicht einfach losfahren und mit dem Auto, dem Boot oder dem Flugzeug herumfahren - man muss ein Ziel haben.

Dann fühlt man sich zielorientiert.

John D. MacDonald: Pale Grey for Guilt







Der Zen-Buddhismus ist ein Weg und eine Lebensauffassung, die in keine der formalen Kategorien des modernen westlichen Denkens passt. Er ist weder Religion noch Philosophie, weder Psychologie noch eine Art von Wissenschaft. Er ist ein Beispiel für das, was in Indien und China als "Weg der Befreiung" bekannt ist, und ähnelt in dieser Hinsicht dem Taoismus, dem Vedanta und dem Yoga. Wie bald deutlich werden wird, kann ein Weg der Befreiung nicht positiv definiert werden. Er muss angedeutet werden, indem man sagt, was er nicht ist, so wie ein Bildhauer ein Bild enthüllt, indem er Steinstücke von einem Block entfernt.

Alan W. Watts. Der Weg des Zen.







Wenn die Jugendlichen eines Landes bei den schulischen Leistungen hinter dem Großteil der Welt zurückbleiben, aber bei Gewalt, ungewollten Schwangerschaften, Geschlechtskrankheiten, Abtreibung, Saufgelagen, Marihuanakonsum, Fettleibigkeit und Unglücklichsein zur Weltspitze gehören, ist es an der Zeit zuzugeben, dass mit der Art und Weise, wie dieses Land seine jungen Menschen erzieht, etwas nicht stimmt.

Dieses Land sind die Vereinigten Staaten.

Laurence Steinberg: Zeitalter der Möglichkeiten (English)







Vererbung und Umwelt. Sie sind Yin und Yang, Adam und Eva, Mama und Papa der Pop-Psychologie. Schon in der High School wusste ich genug über dieses Thema, um meinen Eltern mitzuteilen, wenn sie mich anschrieen, dass sie niemandem außer sich selbst die Schuld geben können, wenn ihnen meine Entwicklung nicht gefällt: Sie hätten sowohl für meine Vererbung als auch für mein Umfeld gesorgt.

Judith Rich Harris. The Nurture Assumption: Warum Kinder so werden, wie sie sind







Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar. Um ehrlich zu sein, fand ich sie bei unserer ersten Begegnung nicht einmal attraktiv. Mittelgroß, ein Topfschnitt, irgendwo zwischen kurz und lang, gelbliche unreine Haut, Schlupflider und dominante Wangenknochen. Ihre farblose Kleidung zeugte von ihrer Scheu, etwas von sich preiszugeben. Als sie sich dem Tisch näherte, an dem ich auf sie wartete, fielen mir ihre Schuhe auf. Es waren die schlichtesten schwarzen Schuhe, die man sich nur vorstellen kann. Und dann dieser Gang, nicht schnell, nicht langsam, nicht raumgreifend und auch nicht tippelnd.

Han Kang: Die Vegetarierin







"Teilnahme ist wichtiger als Sieg", dachte sich unser Fröschlein, Jean-Christophe geheissen, und schaltete den Fernseher ab. Schluss mit dem faulen Herumsitzen! Bewegung! Jetzt wird Sport gemacht. Ab morgen wird trainiert.

Und wirklich: Schon kurz nach Sonnenaufgang sprang Jean-Christophe ins Wasser seines heimischen Tümpels, schwamm mit kräftigen Stössen seiner muskulösen Schenkel eine Bahn nach der nächsten, ganz ohne zwischendurch mal eben nach einer Fliege zu schnappen. Nein, das verkniff er sich. Er war ganz bei der Sache.

Gert Richter: Froschgeschichten: Satiren, Nonsense und Quatschgedichte







»I glaub, jetzt kommt der Herr Doktor nimmer!« sagte Fräulein Berta, die Kellnerin, mit ihrem huldvollsten Lächeln und versuchte, mir heimtückisch das leere Bierglas zu entziehen, um es frisch füllen zu lassen.

»Stehen lassen, Berta! Ich hab heute schon meine Bettschwere! Und überdies füllt man zehn Minuten vor Eintritt der Polizeistunde keine Biergläser mehr!«

»Jesses, fressen S' mi nur net glei!« Sie zog sich schmollend zurück und widmete sich wieder dem Stricken eines Kriegerstrumpfs von respekteinflößender Fußgröße.

War ich, in meiner Ungeduld über Walters Ausbleiben, zu grob gewesen? — Ich wollte mein Unrecht wieder gut machen und leitete die Friedensverhandlungen durch einen jener Blicke ein, die Fräulein Berta mit der lächelnden Drohung zu quittieren pflegt: »Sie, das sag i Ihrer Frau Gemahlin!«

Karl Ettlinger: Mister Galgenstrick und andere Humoresken







Als ich die folgenden Seiten, oder vielmehr den größten Teil derselben schrieb, lebte ich allein im Walde, eine Meile weit von jedem Nachbarn entfernt in einem Hause, das ich selbst am Ufer des Waldenteiches in Concord, Massachusetts, erbaut hatte und erwarb meinen Lebensunterhalt einzig durch meiner Hände Arbeit. Ich lebte dort zwei Jahre und zwei Monate. Jetzt nehme ich wieder am zivilisierten Leben teil.

Henry David Thoreau. Walden, oder: Leben in den Wäldern







Sie hiess Kimo, war nicht von hier, hatte furchtlose, dunkle Augen, schaute einen direkt an, lächelte selten, rauchte viel, und ich wurde nicht schlau aus ihr. Auch weiss ich nicht, was sie an mir fand; ich bin ein völlig nichtssagender Typ, durchschnittlich, in keiner Hinsicht irgendwie attraktiv. Obendrein war ich, zumindest damals, voller Macken und Ängste, ohne Richtung, unreif, ein vom Baum gefallenes Blatt. Trotzdem nahm mich Kimo unter ihre Fittiche, wahrscheinlich ebenso selbstverständlich, wie sie auch einen streunenden Hund mitgenommen hätte, für eine Weile wenigstens. Ich habe keine Ahnung, was Kimo heute macht; ich würde sie gern wiedersehen oder zumindest von ihr hören. Sie fehlt mir.

Gert Richter: Angstlabyrinth







"Pardon", hatte sie leise gesagt, zurückhaltend, nicht unfreundlich. Ich hatte den Sitz am Gang, sie den am Fenster, und so stand ich auf und trat heraus, um sie durchzulassen. Sie sah mich die ganze Zeit an; ich spürte das und wollte ihrem Blick ausweichen, konnte es aber nicht. Sie sah mir direkt in die Augen, tiefernst, lange, fremd, und ich dachte erschreckt, mein Gott, die sieht dir ja bis auf den Grund deiner Seele.

"Danke", sagte sie, schob sich auf ihren Sitz, machte den Gurt fest, sah aus dem Fenster. Ich schielte aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber, beunruhigt, ein wenig verstört. So sieht man andere Menschen einfach nicht an. Das tut man nicht. Jeans, ein dunkelroter Pullover, schlank, dunkle Haare - ja und? dachte ich, was sagt dir das jetzt? Nicht viel jedenfalls. Vergiss es. Was geht es dich an?

Gert Richter: Anne lieben







Er ging bis zu der Hecke, die das Ende des Flugplatzes markierte.

Das Austesten der Grenzen. Die Männer nannten es sein "tägliches Grundgesetz" und ärgerten sich, wenn er es nicht befolgte. Sie waren abergläubisch. Jeder war abergläubisch.

Jenseits der Hecke lagen kahle Felder, die im letzten Herbst umgepflügt worden waren. Er erwartete nicht, die Alchemie des Frühlings zu sehen, zu sehen, wie sich die stumpfe braune Erde in helles Grün und dann in blasses Gold verwandelte. Ein Mann konnte sein Leben in eingefahrenen Ernten zählen. Er hatte genug gesehen.

Kate Atkinson: A God in Ruins







Viele Leute sagen: “Ja, die Frau Dr. Ross hat zu viele Sterbende gesehen. Jetzt fängt sie an, ein bisschen komisch zu werden.” Die Meinung, die andere Leute von Ihnen haben, ist das Problem dieser anderen Leute und nicht Ihr Problem. Das ist sehr wichtig zu wissen. Wenn Sie ein gutes Gewissen haben und Ihre Arbeit mit Liebe ausführen, wird man Sie anspucken, wird man Ihnen das Leben schwermachen. Und zehn Jahre später bekommen Sie achtzehn Ehrendoktortitel für die gleiche Arbeit. Und so ist mein Leben jetzt.

Elisabeth Kübler-Ross: Uber den Tod und das Leben danach







DIE SUCHE


Einchecken in Paris, Flug nach Indien. Lesen. Seitenlang berichtet die Presse über eine Handvoll Terroristen, die vor zwei Tagen über Mumbai (Bombay) hergefallen sind. Mit »Allah Akbar« auf den Lippen mähten sie 168 Männer und Frauen nieder. Als ich im Jahr zuvor nach Sydney aufbrach, waren die Zeitungen gerade voll mit Reportagen über einen Arzt, der mutmaßlich dort als Terrorist agierte. Vor dem Start zu meiner Südamerikareise gab es am Flughafen Charles de Gaulle einen Bombenalarm. Ein Zufall nach dem anderen, unbestritten. Trotzdem, man wünscht sich lustigere Zufälle.

Andreas Altmann: Triffst du Buddha, töte ihn!







Geld.

Nur wenige Worte haben die Kraft, so extreme menschliche Emotionen hervorzurufen.

Viele von uns weigern sich sogar, über Geld zu sprechen! Wie Religion, Sex oder Politik ist das Thema am Esstisch tabu und am Arbeitsplatz oft tabu. Wir mögen in höflicher Gesellschaft über Reichtum sprechen, aber Geld ist ein explizites Thema. Es ist roh. Es ist grell. Es ist sehr persönlich und hoch aufgeladen.

Tony Robbins: MONEY Master the Game: 7 einfache Schritte zur finanziellen Freiheit







BEN: "Herr Ober", sagte ich in ausgelassener Stimmung, "ich habe ein perfektes Leben, aber ich habe kein Messer."

Ich frühstückte mit einem Freund bei einem meiner regelmäßigen Besuche in London, um das Philharmonia Orchestra zu dirigieren. Hinter mir hörte ich Gekicher, und als ich mich umdrehte, fiel mein Blick auf ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit einem typisch englischen Pudding-Haarschnitt. Wir tauschten ein Lächeln aus, und dann kehrte ich zu meinem Gespräch und meinem Frühstück zurück.

Am nächsten Tag begegnete ich der jungen Dame erneut im Frühstücksraum und blieb stehen, um mit ihr zu sprechen. "Guten Morgen. Wie geht es Ihnen heute?"

Sie richtete sich leicht auf und antwortete mir mit geneigtem Kinn und einem Funkeln in den Augen.

Zander, Rosamund Stone; Zander, Benjamin: The Art of Possibility: Berufliches und persönliches Leben transformieren (English)







Die Mittagspause in der Cafeteria der Mitarbeiter von Frankenbergs hatte ihren Höhepunkt erreicht.

An den langen Tischen war kein Platz mehr frei, und immer mehr Leute kamen, um hinter den Holzbarrikaden an der Kasse zu warten. Diejenigen, die bereits ihre Tabletts mit dem Essen geholt hatten, irrten zwischen den Tischen umher, auf der Suche nach einem Platz, an den sie sich quetschen konnten, oder einem Platz, den jemand gerade verlassen wollte, aber es gab keinen Platz. Das Dröhnen von Geschirr, Stühlen, Stimmen, schlurfenden Füßen und das Bra-a-ack der Drehkreuze in dem kahlwandigen Raum war wie der Lärm einer einzigen riesigen Maschine.

Patricia Highsmith: The Price of Salt







Am Anfang war die Flucht; eine Flucht, die leise flüsterte und doch schamlos meine Kindheit ergriff. Plötzlich verflüchtigte sich diese, ohne Abschied zu nehmen; als wollte sie zurückkehren. Geblieben ist eine Ruine; namenlos, erfüllt von Erinnerungen, die Augenblick für Augenblick aus meinen Händen rinnen, um Vergangenheit zu sein; vergangen wie die letzten Verse eines Rilke-Gedichtes, die enden, um wiederholt zu werden, und immerfort. Jede Flucht ist Abschied und Neugeburt. So bin ich geboren in der Flucht – ohne Heimat. Ohne Heimat?

Karimi, Ahmad Milad: Osama bin Laden schläft bei den Fischen: Warum ich gerne Muslim bin und wieso Marlon Brando viel damit zu tun hat







Wir wollten gerade aufgeben und Feierabend machen, als jemand das Mädchen von der Brücke schmiss.

Sie hielten mit quietschenden Reifen über uns an, außer Sichtweite, warfen sie über die Brücke und verschwanden.

Es war ein heißer Montagabend im Juni. Mit Mond. Es war nach Mitternacht und kurz nach dem Gezeitenwechsel. Eine Milliarde Mücken stürmten auf uns zu, als der Wind abflaute.

Es schien eine sehr endgültige Art zu sein, eine Liebesgeschichte zu beenden.

Ich saß dort unter der Brücke in einem Skiff mit meinem Freund Meyer. Wir befanden uns unter dem Ende der Brücke, das der Stadt Marathon am nächsten liegt, und es ist die erste Highway-Brücke hinter Marathon auf dem Weg nach Key West - wenn man Idiot genug ist, überhaupt nach Key West zu wollen.

MacDonald, John D: Darker than Amber (English)







Die Polizeibeamten Gary Felice und Prince Jones waren die ersten, die auf einen Hausbrand in der De Leon Street in Tampa, Florida, reagierten. Als sie eintrafen, hörten sie das, was jeder Nothelfer fürchtet: Hilfeschreie aus einem Haus, das in Flammen stand. Durch ein Fenster konnten sie gerade noch die Silhouette eines Mannes erkennen, der stolperte und stürzte und sich gerade noch retten konnte. Felice und Jones versuchten verzweifelt, die mit Gitterstäben gesicherte Tür aufzubrechen. Es dauerte fünf Minuten, in denen sie an der Tür zerrten, zogen und auf sie einschlugen, bis sie endlich nachgab, aber da war es schon zu spät. Der Mann war "zusammengerollt wie ein Baby im Bauch seiner Mutter", so Jones. "So sieht jemand aus, der zu Tode verbrannt ist."

Wilson, Timothy D.: Redirect: The Surprising New Science of Psychological Change







Bologna, Italien - Mai 1985

Es war ein heller, sonniger Tag, und ich saß mit einer Gruppe von Jungen zusammen, die im Außenspielbereich einer italienischen Vorschule buddelten. Es war das zweite Mal, dass ich in dieser Schule forschte. Im Jahr zuvor hatte ich 9 Monate mit den Kindern und ihren Lehrern verbracht, und nun war ich zu einer zweimonatigen Nachuntersuchung zurückgekehrt. Die Jungen unterhielten sich über militärische Angelegenheiten - die Marine, Kriegsschiffe und den Chef oder il capo auf solchen Schiffen - während sie Löcher gruben und Steine in der Erde vergruben.

In einiger Entfernung sah ich drei Kinder, die mit einem großen, roten Milchkarton auf dem Hof herumliefen. Die Erzieherinnen benutzten den Karton, um Spielmaterial auf den Hof zu transportieren, und ich hatte die Kinder schon früher damit spielen sehen. Was ich nicht wusste, war, dass der Karton nun ein verbotener Gegenstand war. Wie ich später herausfand, hatte sich ein Kind vor meiner Ankunft in diesem Jahr den Karton auf den Kopf gesetzt und war mehreren anderen Kindern hinterhergelaufen. Dabei stürzte es und zog sich eine leichte Verletzung zu. Nach diesem Vorfall wurde den Kindern verboten, mit der Schachtel zu spielen.

Corsaro, William A.: The Sociology of Childhood







An dem Tag, an dem ich mit dem Schreiben dieses Buches begann, wurden Laleh und Ladan Bijani im Iran in getrennten Gräbern beigesetzt: im Tod getrennt, wie sie es im Leben nie gewesen waren. Laleh und Ladan waren eineiige Zwillinge, neunundzwanzig Jahre alt, am Kopf zusammengewachsen. Sie starben während der Operation, bei der sie getrennt wurden.

Harris, Judith Rich: No Two Alike: Menschliche Natur und menschliche Individualität







Meine erste Erfahrung mit dem Tod machte ich, als ich etwa sieben Jahre alt war. Wir bereiteten uns darauf vor, das östliche Hochland zu verlassen, um nach Zentraltibet zu reisen. Samten, einer der persönlichen Diener meines Meisters, war ein wunderbarer Mönch, der während meiner Kindheit freundlich zu mir war. Er hatte ein strahlendes, rundes, pausbäckiges Gesicht, immer bereit, in ein Lächeln auszubrechen. Er war der Liebling aller im Kloster, weil er so gutmütig war. Jeden Tag gab mein Meister Belehrungen und Einweihungen und leitete Übungen und Rituale. Am Ende des Tages versammelte ich meine Freunde und führte eine kleine Theatervorstellung auf, in der die Ereignisse des Vormittags nachgestellt wurden. Samten war es, der mir immer die Kostüme lieh, die mein Meister am Morgen getragen hatte. Er hat sie mir nie verweigert.

Sogyal Rinpoche: Das tibetische Buch vom Leben und Sterben







Oftmals lassen wir es zu, dass wir uns über Dinge aufregen, die bei näherer Betrachtung gar keine so große Sache sind. Wir konzentrieren uns auf kleine Probleme und Sorgen und machen aus ihnen ein großes Ding. Ein Fremder könnte uns zum Beispiel im Straßenverkehr überholen. Anstatt es auf sich beruhen zu lassen und weiterzumachen, reden wir uns ein, dass unser Ärger gerechtfertigt ist. Wir spielen eine imaginäre Konfrontation in unserem Kopf durch. Viele von uns erzählen später vielleicht sogar jemand anderem von dem Vorfall, anstatt ihn einfach zu vergessen.

Carlson, Richard: Don't Sweat the Small Stuff: Simple Ways to Keep the Little Things from Taking Over Your Life







Forschungsergebnisse können wie viele Dinge sein. Sie können wie verstaubte alte Bücher aus der Bibliothek sein, die in sich zusammenfallen und für das tägliche Leben scheinbar irrelevant sind. Oder sie können wie ein Hammer sein: etwas, das uns von Leuten auf den Kopf geschlagen wird, die wollen, dass wir so denken wie sie. Forschungsergebnisse können auch wie eine Gottheit sein: etwas, vor dem wir Ehrfurcht haben und zu viel Angst, es in Frage zu stellen. Dieses Buch hofft, eine andere Möglichkeit zu vermitteln - dass Forschungsergebnisse wie gute Freunde sein können: etwas, das uns ermutigen, beraten, anregen und helfen kann, aber auch etwas, vor dem wir uns nicht scheuen, es in Frage zu stellen und dagegen zu argumentieren.

Cooper, Mick: Essential Research Findings in Counselling and Psychotherapy







Frau W., 36 Jahre, hat schon wieder einen Termin vereinbart - den sechsten in den letzten drei Wochen. "Oh, nicht schon wieder", denkt die Sprechstundenhilfe, "was könnte es heute sein? Wir hatten Schwindelanfälle, Kopfschmerzen, Herzklopfen, Kurzatmigkeit und Rückenschmerzen." Dr. J. geht kurz ihre Krankenakte durch. Verschiedene Routineuntersuchungen haben keine organische Ursache ergeben, sie bestreitet, dass es Sorgen um Ehe, Geld und Kinder gibt. "Herr Doktor, ich habe Schmerzen in der Brust, besonders wenn ich tief einatme". Dr. J. vermutet, dass sie hyperventiliert, erklärt sich aber dennoch bereit, ihre Brust abzuhören. "Ist es etwas Ernstes, Doktor?" "Nein, ich glaube nicht." Dr. J. fühlt sich ein wenig verloren und fragt sich, was los ist. Er bittet seinen Kollegen Dr. C., ihm zu helfen und sich die Patientin anzusehen.

Asen, Eia; Tomson, Dave; Young, Venetia; Tomson, Peter. Zehn Minuten für die Familie: Systemische Interventionen in der Primärversorgung







Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht. Ich habe ein Telegramm vom Heim bekommen: «Mutter verstorben. Beisetzung morgen. Hochachtungsvoll.» Das will nichts heißen. Es war vielleicht gestern.

Camus, Albert. Der Fremde







Niemand kann ewig in der Mitte bleiben, und je länger ich ihn kannte, desto klarer wurde mir, dass McGovern seine Mitte verlor. Damit meinte ich nicht seinen Witz, seine Gesundheit, seinen Sexualtrieb oder gar seinen Verstand. All diese Fähigkeiten schienen, soweit ich das beurteilen konnte, so intakt zu sein, wie es bei einer Person wie McGovern überhaupt möglich war. Aber das, was er zu verlieren schien, war leider etwas noch Schädlicheres für seine zwischenmenschlichen Beziehungen, und die Hauptlast davon, das möchte ich anmerken, fiel direkt auf die Schultern eines Mannes, der bereits mit viel zu vielen irdischen Verpflichtungen belastet war, nämlich auf meine. Was McGovern verlor, auch wenn er es selbst nicht merkte, war sein Gehör.

Kinky Friedman: The Prisoner of Vandam Street







Ich wurde 1927 geboren, als einziges Kind von Eltern aus der Mittelschicht, beide Engländer, die selbst in dem grotesk langen Schatten dieses monströsen Zwerges, Königin Victoria, geboren wurden, aus dem sie sich nie ausreichend über die Geschichte erhoben, um ihn zu verlassen. Ich wurde auf eine öffentliche Schule geschickt, ich verschwendete zwei Jahre mit dem Wehrdienst, ich ging nach Oxford; und dort begann ich zu entdecken, dass ich nicht der Mensch war, der ich sein wollte.

Fowles, John. Der Magus







Was für ein Glück sie hatten? Eine Hitzewelle mitten in den Schulferien, genau da, wo sie hingehörte. Jeden Morgen stand die Sonne lange vor ihnen auf und machte sich über die fadenscheinigen Sommervorhänge lustig, die schlaff an ihren Schlafzimmerfenstern hingen, eine Sonne, die schon heiß und klebrig war, bevor Olivia überhaupt die Augen öffnete. Olivia, verlässlich wie ein Hahn, wachte immer als Erste auf, so dass sich seit ihrer Geburt vor drei Jahren niemand im Haus die Mühe gemacht hatte, einen Wecker zu stellen.

Atkinson, Kate: Case Histories







Albert Hahn lag da, als wolle er im Toten Meer den toten Mann spielen. Die Dunkelheit des unbeleuchteten Weinkellers trug sachte den schweren Körper, und nur die Wölbung eines sehr dicken Bauches ragte ins diffuse Licht, das von der Kellerstiege kam.

Komarek, Alfred. Polt muss weinen







Gendarmerieinspektor Simon Polt bremste sein altmodisches Fahrrad ab, atmete tief durch und schaute übers Land. „Grüß dich, Frühling“, sagte er.

Noch waren viele Ackerflächen schwarz, und die Rebstöcke wirkten kahl, obwohl sie schon winzige Blattansätze hatten. Nach einem milden Winter trugen einige Bäume schon frisches Laub, und im weithin gedehnten Schachbrettmuster der Felder schuf die Wintergerste grüne Flächen. Vor allem aber wucherte und blühte das Unkraut an den Wegrändern. Dort, wo das Gelände steiler abfiel, oder auch an Hohlwegen, standen zart begrünte Akazienstauden, bald würden Weißdorn und Flieder blühen.

Komarek, Alfred. Blumen für Polt







Die Katze war weg, und der Lesbentanz war schon seit einiger Zeit still. Es war eine ziemlich harte Zeit für den Kinkster gewesen. Ratso fing auch an, mich zu nerven. "Anfangen" wäre wohl das falsche Wort. Ratso war seit dem ersten Tag, an dem ich ihn kennengelernt hatte, ziemlich gründlich auf den Wecker gegangen. Vielleicht war das ein Teil seines Charmes. Vielleicht habe ich das früher nie an mich rangelassen. Vielleicht hatte ich jetzt, wo die Katze weg war und ich niemanden mehr hatte, mit dem ich wirklich reden konnte, endlich die volle Wucht von Ratsos Persönlichkeit auf mich abgewälzt. Aber Ratso war ein Typ, den man einfach nicht hassen konnte, also konnte man ihn genauso gut lieben.

Friedman, Kinky. Ten Little New Yorkers







Es war der Morgen meines hundertsten Geburtstags. Ich rasierte das letzte Spiegelbild meines alten, müden Gesichts im unbarmherzigen Schein der Badezimmerbeleuchtung. Es war schön und gut, sich zu sagen, dass Humphrey Bogart diese Art von Gesicht hatte; aber er hatte auch ein Haarteil, eine halbe Million Dollar im Jahr und ein Double für die harten Momente. Ich tupfte mit einem Sodastift die Schnittwunden ab. Im Vergrößerungsspiegel sah es aus wie eine weiße Rakete, die auf der unbekannten Seite des Mondes gelandet war.

Deighton, Len. Billion-Dollar Brain







Nacht. // Der Ahorn vor meinem Fenster rauscht, /von seinen Blättern funkelt der Thau ins Gras, / und mein Herz / schlägt. // Nacht. // Ein Hund .. bellt, ... ein Zweig ... knickt, – still! // Still!! // Du? ... Du? /Ah, deine Hand! Wie kalt, wie kalt! / Und ... deine Augen ... gebrochen! // Gebrochen!! // Nein! Nein! Du darfst es nicht sehn, / dass die Lippen mir zucken, / und auch die Thränen nicht, die ich kindisch um dich vergiesse – // Du armes Weib! // Also nachts, /nachts nur noch wagst du dich, / schüchtern, / aus deinem Sarg? / Um dich auf Zehen zu mir zu schleichen? // Armes Weib!

Holz, Arno. Phantasus







Das große Büro von Oberst Alexander J. Bohnen lag mit Blick auf den Grosvenor Square. Die Möbel waren eine kuriose Ansammlung von Kuriositäten: zwei klobige Sessel aus dem Lagerraum der amerikanischen Botschaft rochen nach Mottenkugeln, sein Schreibtisch und ein mit Aktenkisten beladener Tisch trugen die Aufschrift des britischen Bauministeriums. Der antike Teppich und ein Sheraton-Porzellanschrank waren aus dem Luftschutz, den Bohnen billig in einem Londoner Verkaufsraum erstanden hatte. Nur die Klappstühle, von denen sechs ordentlich hinter der Tür gestapelt waren, stammten aus Amerika. Aber es war Dezember 1943 und London befand sich mitten im Krieg.

Deighton, Len. Goodbye Mickey Mouse







Es war der Himmel eines Bombers: trockene Luft, genug Wind, um den Rauch zu verscheuchen, die Wolken durchbrochen genug, um ein paar Sterne zu erkennen. Das Schlafzimmer war so dunkel, dass Ruth Lambert einen Moment brauchte, um ihren Mann am Fenster stehen zu sehen. "Geht es dir gut, Sam?"

"Ich bete zu Mutter Mond."

Sie lachte schläfrig. "Wovon redest du?"

"Meinst du, ich brauche nicht alle Hexerei, die ich bekommen kann?"

"Oh, Sam. Wie kannst du das sagen, wenn du ..." Sie hielt inne.

Er ergänzte ihren Satz: "... von fünfundvierzig Einsätzen sicher zurückgekommen bist?"

Len Deighton: Bomber







Alle sahen den herrischen Mann, der unter dem Laternenpfahl in der Wiener Ringstraße stand, und doch sah ihn niemand direkt an. Er war sehr schlank, etwa dreißig Jahre alt, blass, mit schnellen, zornigen Augen und einem sauber gestutzten schwarzen Schnurrbart. Seine Augen wurden von der Krempe seines glänzenden Seidenhutes überschattet, und das Gaslicht hob die Diamantnadel in seiner Krawatte hervor. Er trug einen langen schwarzen Chesterfield-Mantel mit einem Pelzkragen. Es war ein besonders schöner Mantel, die Art von Mantel, die von den exklusiven Schneidern in Berlin stammte. Ich kann keinen Moment länger warten", sagte er. Und sein Deutsch hatte den Berliner Akzent.

Len Deighton: Winter: Eine Berliner Familie







Da ihr gewiß schon die Abenteuer von Tom Sawyer gelesen habt, so brauche ich mich euch nicht vorzustellen. Jenes Buch hat ein gewisser Mark Twain geschrieben und was drinsteht ist wahr – wenigstens meistenteils. Hie und da hat er etwas dazugedichtet, aber das tut nichts. Ich kenne niemand, der nicht gelegentlich einmal ein bißchen lügen täte, ausgenommen etwa Tante Polly oder die Witwe Douglas oder Mary. Toms Tante Polly und seine Schwester Mary und die Witwe Douglas kommen alle in dem Buche vom Tom Sawyer vor, das wie gesagt, mit wenigen Ausnahmen eine wahre Geschichte ist.

Twain, Mark. Huckleberry Finns Abenteuer und Fahrten







"Wie lange sitzen wir schon hier?", fragte ich. Ich nahm den Feldstecher in die Hand und betrachtete den gelangweilten jungen amerikanischen Soldaten in seinem Glaskasten.

"Fast ein Vierteljahrhundert", sagte Werner Volkmann. Seine Arme ruhten auf dem Lenkrad und sein Kopf war darauf gesunken. "Dieser GI war noch nicht einmal geboren, als wir das erste Mal hier saßen und darauf warteten, dass die Hunde bellen."

Das Bellen der Hunde in ihrem Gehege hinter den Überresten des Hotels Adlon war normalerweise das erste Zeichen dafür, dass auf der anderen Seite etwas passierte. Die Hunde witterten ungewöhnliche Ereignisse, lange bevor die Hundeführer kamen, um sie zu holen. Deshalb ließen wir das Fenster offen; deshalb waren wir fast erfroren.

Len Deighton: Berlin Game







Bewusstsein ist das Erscheinen einer Welt. Die Essenz des Phänomens des bewussten Erlebens besteht darin, dass eine einzige und einheitliche Wirklichkeit in die Gegenwart tritt: Wenn wir bewusst sind, erscheint uns eine Welt. Dies gilt für Träume ebenso wie für den Wachzustand; im traumlosen Tiefschlaf dagegen erscheint nichts: Die Tatsache, dass eine äußere Wirklichkeit existiert und dass wir darin anwesend sind, ist uns nicht zugänglich. Wir wissen nicht einmal, dass wir selbst existieren.

Metzinger, Thomas. Der Ego-Tunnel: Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik







GESTERN HABE ICH VIOLETS BRIEFE AN BILL GEFUNDEN. Sie waren zwischen den Seiten eines seiner Bücher versteckt und purzelten heraus und fielen auf den Boden. Ich hatte schon seit Jahren von den Briefen gewusst, aber weder Bill noch Violet hatten mir jemals gesagt, was in ihnen stand. Was sie mir erzählten, war, dass Bill wenige Minuten nach der Lektüre des fünften und letzten Briefes seine Meinung über die Heirat mit Lucille änderte, aus dem Haus in der Greene Street ging und direkt zu Violets Wohnung im East Village lief. Als ich die Briefe in den Händen hielt, hatte ich das Gefühl, dass sie das unheimliche Gewicht von Dingen haben, die von Geschichten verzaubert sind, die erzählt und wieder erzählt werden und dann noch einmal erzählt werden. Meine Augen sind jetzt schlecht, und ich habe lange gebraucht, um sie zu lesen, aber am Ende konnte ich jedes Wort erkennen. Als ich die Buchstaben hinlegte, wusste ich, dass ich heute mit dem Schreiben dieses Buches beginnen würde.

Hustvedt, Siri. Was ich liebte.







Es war Nacht und das dreizehnjährige Kindermädchen Warka schaukelte die Wiege and summte dabei kaum hörbar:

Schlaf, Kindchen, schlaf,
Dein Vater ist ein Graf ...

Vor dem Heiligenbild brannte ein Licht in einem grünen Glase, quer durch das Zimmer war ein Seil gespannt, über das Windeln und große schwarze Beinkleider gehängt waren. Das Flämmchen warf einen grünen Lichtfleck auf die Zimmerdecke und die Windeln und Beinkleider warfen lange Schatten über den Ofen, die Wiege und Warka. Wenn das Licht flackerte, gewannen der grüne Fleck und die Schatten Leben, gerieten wie vom Winde geweckt in Bewegung. Es war dumpf in der Stube und roch nach Essen und Schusterwerkstatt.

Tschechow, Anton. Schlafen!







Die humorvolle Geschichte - eine amerikanische Entwicklung - ihr Unterschied zu komischen und witzigen Geschichten.

Ich behaupte nicht, dass ich eine Geschichte so erzählen kann, wie sie erzählt werden sollte. Ich behaupte nur, dass ich weiß, wie eine Geschichte erzählt werden sollte, denn ich bin seit vielen Jahren fast täglich in der Gesellschaft der erfahrensten Geschichtenerzähler gewesen.

Es gibt verschiedene Arten von Geschichten, aber nur eine schwierige Art - die humorvolle. Ich werde hauptsächlich über diese sprechen. Die humorvolle Geschichte ist amerikanisch, die komische Geschichte ist englisch, die witzige Geschichte ist französisch. Die humorvolle Geschichte hängt in ihrer Wirkung von der Art des Erzählens ab, die komische Geschichte und die witzige Geschichte von der Sache.

Twain, Mark. Wie man eine Geschichte erzählt und andere Essays







Tausende von Büchern sind über Japan geschrieben worden, aber unter diesen - abgesehen von künstlerischen Veröffentlichungen und Werken mit reinem Spezialcharakter - sind die wirklich wertvollen Bände kaum zu finden. Diese Tatsache ist auf die immense Schwierigkeit zurückzuführen, das, was unter der Oberfläche des japanischen Lebens liegt, wahrzunehmen und zu verstehen. Kein Werk, das dieses Leben vollständig interpretiert, kein Werk, das Japan von innen und außen, historisch und sozial, psychologisch und ethisch darstellt, kann für mindestens weitere fünfzig Jahre geschrieben werden.

Hearn, Lafcadio. Japan: ein Versuch der Interpretation







Am Morgen des 29. August schien der Tod des kleinen Mädchens in der Broad Street 40 für niemanden, der darauf achtete, besonders bemerkenswert zu sein. Nicht viele Menschen in dem Londoner Viertel, in dem das Mädchen gelebt hatte, kannten überhaupt ihren Namen - kleine Kinder sind in einem so überlaufenen Ort wie der Broad Street so etwas wie eine überflüssige Ware. Es ist sogar gut möglich, dass niemand außerhalb der unmittelbaren Familie des Kindes von ihrem Tod erfahren hätte, wenn nicht die Art und Weise ihres Todes gewesen wäre.

Kluger, Jeffrey: Simplexity: Warum einfache Dinge komplex werden (und wie komplexe Dinge einfach gemacht werden können)







Es gibt keine hundertprozentigen Helden.

Jeder Mensch kann zerbrechen, wenn ihm Dinge in einer bestimmten Reihenfolge, mit einer Dynamik und einer Intensität widerfahren, die in seinem Hinterkopf alte Ängste wecken. Er weiß, was er zu tun hat, aber plötzlich gehorcht der Körper nicht mehr dem Verstand. Die Panik wird zu einem unerträglich schrillen Ton.

John D. MacDonald: Cinnamon Skin







Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.

Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde







Wenn Sie keine Charaktere erschaffen können, die in der Vorstellung des Lesers lebendig sind, können Sie keinen verdammt guten Roman schreiben. Charaktere sind für einen Romanautor das, was Holz für einen Schreiner und Ziegel für einen Maurer sind. Charaktere sind der Stoff, aus dem ein Roman gemacht ist.

James N. Frey: Wie man einen verdammt guten Roman schreibt.







Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir's danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen.

Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen näheren finden kannst.

Johann Wolfgang von Goethe. Die Leiden des jungen Werther







Dies ist ein kurzes Buch, weil die meisten Bücher über das Schreiben mit Schwachsinn gefüllt sind. Schriftsteller, inklusive meiner Wenigkeit, verstehen nicht viel von dem, was sie tun - nicht, warum es funktioniert, wenn es gut ist, und nicht, warum es nicht funktioniert, wenn es schlecht ist. Ich dachte mir, je kürzer das Buch, desto weniger Schwachsinn.

Stephen King: Über das Schreiben







Als Chili vor zwölf Jahren zum ersten Mal nach Miami Beach kam, herrschte hier gerade einer der kalten Winter: Vierunddreißig Grad an dem Tag, als er Tommy Carlo zum Mittagessen im Vesuvio's auf South Collins traf und ihm die Lederjacke vom Leib gerissen wurde. Eine, die ihm seine Frau vor einem Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, bevor sie hierher zogen.

Leonard, Elmore. Get Shorty